Die besten new deals für Europa
Interview mit Dr. Stephan Schulmeister: Die Karten sollen neu gemischt und verteilt werden! Anders als beim neoliberalen „there is no alternative“ soll die Realwirtschaft wieder ins Zentrum der Politik rücken. Stephan Schulmeister hat eine düstere Prognose parat, wenn weiterhin auf Spekulation und Finanzmarktwirtschaft gesetzt wird. „Dann verfallen auch Österreich und Deutschland in eine tiefe Rezession.“
Mag. Dr. Stephan Schulmeister – Ökonom am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO). „Um eine drohende Depression aufzuhalten, gilt es das Unternehmertum auf allen Ebenen zu fördern“. (credit: Daniela Kloock, Berlin)
WIFO-Top-Ökonom Dr. Stephan Schulmeister lockt mit seinem Buch „Mitten in der großen Krise – ein New Deal für Europa“ mit der Überwindung der Krise – wenn die aktuellen Modelle geändert werden können bzw geändert werden WOLLEN. Es müssen eben die besten New Deals her! Europa braucht eine Politik maßgeschneiderter Einzelmaßnahmen. Dafür kann der „erste“ New Deal (von US-Präsident Roosevelt) als Navigationsinstrument dienen. Allerdings müsste ein solches Programm noch VOR dem Tiefpunkt in Angriff genommen werden. Also JETZT. Denn die „Chancen“ auf eine Depression stehen so „gut“ wie noch nie seit acht Jahrzehnten.
Europas Wirtschaft steht vor einer tiefen Depression. Der kann entgegen gewirkt werden, so Dr. Stephan Schulmeister im aktuellen Lexpress-Interview. Leitlinien eines New Deal für Europa seien die Verlagerung des Gewinnstrebens von der Finanz- zur Realwirtschaft, die Konsolidierung der Staatsfinanzen durch Expansion sowie die Stärkung des europäischen und sozialen Zusammenhalts. Wichtigste Voraussetzung für die Verlagerung des Gewinnstrebens sei die Stabilisierung der zwischen Real- und Finanzwirtschaft vermittelnden Fundamentalpreise durch das politische System.
Lexpress: Mit ihrem Buch „Mitten in der großen Krise – ein New Deal für Europa“ setzen Sie sich für ein massives Umdenken in der Wirtschaftspolitik ein. Die Kernaussage: Arbeiten in die Finanzwirtschaft soll sich als Service für die Realwirtschaft vollziehen. Wenn nun allerdings die Realwirtschaft durch den weltweiten Kapitalmarkt finanziert wird, und somit auch Absicherungen, also Derivatgeschäfte, beinhaltet sind, steht dieser Übergang auf wackeligen Beinen.
Stephan Schulmeister: „In meinem Modell geht es nicht darum, Real- gegen Finanzwirtschaft auszuspielen, vielmehr geht es um die Hierarchie dieser beiden Systeme. Natürlich ist die Finanzwirtschaft unverzichtbar für ein Funktionieren der Marktwirtschaft und dieser sollte sie auch dienen. Genau das ist in den letzten 30 Jahren zunehmend nicht der Fall, vielmehr engen Ent-wicklungen auf den Finanzmärkten den unternehmerischen Spielraum systematisch ein, die Finanzwirtschaft hat die Führungsrolle übernommen. Schon beginnend mit der Reputation: In meiner Jugendzeit in den 1960er-Jahren waren es die Industriekapitäne, die das höchste Prestige genießen durften. Banker gab es nicht, sondern Bankbeamte, was zwar honorig, doch nichts Besonderes war. 40 Jahre später sind die Zampanos in der Finanz-welt zu finden, von Ackermann abwärts. Das Gewinnstreben ist die Kernenergie im Kapitalismus; jene Energie, welche Aktivitäten des Systems antreibt. Nun ist entscheidend, ob diese Kernenergie auf realwirtschaftliche Aktivitäten gelenkt wird und so die Turbinen realer Produktion bedient. Derivate wiederum sind wichtige Instrumente zur Absicherung der Realwirtschaft. Werden sie rein zur Spekulation verwendet, sind Derivate das wichtigste Medium für den Casino-Kapitalismus. Tatsächlich sind auf den Derivatmärkten Absicherungs-geschäfte nahezu bedeutungslos geworden im Vergleich zur kurzfristigen und destabilisierenden Spekulation. Allein mit börsegehandelten Derivaten wird in Deutschland et-wa das 50-fache des BIP umgesetzt. Spekulative Spiele wären für sich alleine genommen auch kein Pro-blem. Wenn immer mehr Menschen in Österreich 6 aus 45 spielen oder ins Casino gehen, handelt es sich um Umverteilungsspiele. Werden aber die wichtigsten Preise der Weltwirtschaft durch spekulative Spiele bestimmt, zB Wechselkurse, Zinssätze, Aktienkurse, Rohstoffpreise, dann wird die Lage kritisch. Beginnend vor etwa 30 Jahren befinden wir uns nun in einer Krise, welche den schrittweisen Zusammenbruch der gesamten Spielordnung darstellt. Die Chancen auf eine wirtschaftliche Depression stehen jetzt so gut wie noch nie – seit 80 Jahren.“
Weshalb ist die Regulierung bzw Trennung der einzelnen Sparten der credit default swaps so schwierig? Es ist doch klar sichtbar, wenn ein Unternehmen seine Lieferung in zB ein Krisenland absichert. Also Absicherung erlauben, Spekulation verbieten.
Stephan Schulmeister: „Das ist tatsächlich nicht so einfach zu trennen. Das größte Problem stellen die Wirtschaftswissenschaften dahinter dar, welche die Verwandlung des Realkapitalismus der 1950er und 1960er Jahre in den Finanzkapita-lismus der letzten Jahrzehnte legitimiert haben. An den deutschen Universitäten gibt es etwa nur mehr Wirtschaftswissenschafter, welche den freien Markt, unabhängig davon, was am Markt passiert, legitimieren. Diese marktreligiösen Pro-fessoren haben a priori den festen Glauben, der Markt macht alles Ökonomische besser als die Politik. Nun wird auch nicht geprüft, welcher Markt nun funktioniert und welcher nicht, es mangelt an pragmatisch-empirischer Arbeit. Ich bin Marktwissenschafter, aber eben nicht marktreligiös, denn es existieren Märkte, welche systematisch falsche Preise produzieren. Betrachtet man etwa die wichtigsten Preise der Weltwirtschaft (Zins-sätze, Aktienkurse, Rohstoffpreise und Wechselkurse), so zeigen sich klar manisch-depressive Schwan-kungen. Die Trader nennen das Bullen- und Bärenmarkt – das Überschießen der Preise, also die Abwei-chung von ihren theoretischen Gleichgewichtswerten, ist der Nor-malzustand dieser Märkte. Somit funktionieren sie auch nicht. Als Folge ihrer Marktreligiösität ha-ben führende Wirtschaftswissen-schafter und Politiker die Orientie-rung verloren, die Reaktion in der Krise war daher: More of the same. Dies ist beim sg. Fiskalpakt gut zu beobachten: Das Sparen in Europa hat bislang nichts gebracht, die Staatsverschuldung hat sich seit Einführung der Maastricht-Kriterien um 50% erhöht. Dennoch soll jetzt noch mehr gespart werden, am besten alle gleichzeitig. Dies wird in eine schwere Wirtschaftskrise führen und den Unternehmen enormen Schaden zufügen. In der Unter-nehmerschaft beginnt sich ja langsam und Gott sei Dank der Zweifel zu erheben, ob diese alten neoliberalen Rezepte Sinn machen.“ Die institutionellen Wirtschaftswissen-schafter arbeiten doch eng mit der Politik zusammen. Auch die Bankbeam-ten von einst sind zu Industriekapitänen geworden und sitzen im Aufsichtsrat der Unternehmen. Hat sich das Bild des Unternehmers geändert? Stephan Schulmeister: „Ja, aber eben in die andere Richtung. Ein Blick wieder nach Deutschland: Die Deutschland AG war eine Verflech-tung des Finanzsektors mit der Industrie. Die Deutsche Bank etwa hatte ganz erhebliche Unternehmensbeteiligungen, welche dann abgestoßen wurden. Vor 10 Jahren hat das die Steuerreform steuerfrei ermöglicht. Man muss unterscheiden zwischen Managen von Unter-nehmensbeteiligungen und Manager der Industrie selbst. Ein Hedgefund, der eine Firma aufkauft, ist natürlich auch Eigentümer, er filettiert das Unternehmen oder bürdet ihm Kredite auf, aber er ist nicht jemand, der genuin unternehmerisch tätig ist. Sein Hauptziel ist nicht das langfristige Gedeihen der Firma und deren Mitarbeiter, sondern die Frage, wie der Wert des Unternehmens am Aktien- oder Kapitalmarkt rasch erhöht werden kann, um einen gewinnbringenden Verkaufserlös zu erzielen. Für den echten Unternehmer ist sein Betrieb ein sozialer Organismus, für den er Verantwortung empfindet, und die Kooperation zwischen Be-legschaft und Unternehmerschaft ist ein zentrales Element. Die För-derung von Unternehmertum und die Beschränkung von Finanzspeku-lation ermöglichten in den 1950er und 1960er Jahren für 20 Jahre Vollbeschäftigung. Wenn – wie in den letzten 30 Jahren – durch Aktivitäten am Finanzmarkt die höchsten Rendite erzielt werden können, dann wird echtes Unter-nehmertum systematisch beeinträchtigt. “
Lexpress: Nun fordert aber die Politik, die Gesellschaft, von der Wirtschaft Wachstum. Damit wird sich das Unternehmen, das Familienunternehmen, schwer tun, denn es sind Investitionen nötig, sei es für die Bestanderhaltung, eine Expansion oder zur Bewältigung der Auftragslage. Die klassische Finanzierung über die Hausbank, wie vor 30 Jahren, ist in dieser Form nicht mehr möglich und das Unternehmen ist gezwungen sich an den Kapitalmarkt, zB via PE- oder VC-Kapital, zu wenden und nun kreuzen sich die Interessen. Das Unternehmen, welches als solches erhalten bleiben will, kann dem geforderten Wachstum nicht entsprechen?
Stephan Schulmeister: „Natürlich nicht. Betrachtet man die Wachstumsraten der letzten 50 Jahre in Europa, so gehen diese von Jahr-zehnt zu Jahrzehnt zurück, genau in dem Maße, in dem sich der Finanzkapitalismus ausgebreitet hat. Sie können nicht Unternehmertum fördern und sich gleichzeitig am Grundsatz orientieren ‚Lassen wir unser Geld arbeiten‘. Das System, aus Geld mehr Geld machen zu wollen, unter Umgehung der Realwirtschaft, ist nicht möglich. Ein solches finanzkapitalistisches System ist in der Wirtschaftsgeschichte auch immer zusammen gebrochen. 1873 – der große Börsenkrach, detto 1929. Nun ist dieser Implosionsprozess verlangsamt, da sich die Politik, als die Krise akut im Herbst 2008 ausbrach, entschloss, die Banken zu retten und Konjunkturpakte zu gestalten. Al-lein an der ‚Spielanordnung‘, aus Geld mehr Geld machen zu wollen, wurde nichts geändert. So haben die Finanzakrobaten nach nur einem Jahr ein neues Spiel begonnen, das es bis dato nicht gab, nämlich die Spekulation gegen souveräne Staaten. Statt dem einen Riegel vorzuschieben, reagierte die Politik mit einer generellen Sparpolitik – vergleichbar mit 1930/1931. Viele Länder, wie Griechenland oder Spanien, befinden sich in einer echten Depression.“
Lexpress: Ihre Prognose, Herr Dr. Schulmeister?
Stephan Schulmeister: „Meine Prognose ist wenig aufbauend. Die Probleme werden sich ausbreiten. Auch Deutschland und Österreich werden von einer Rezension erfasst werden, da in einer interdependenten Weltwirtschaft die Krise nicht in einem Teil von Europa wie etwa in Deutschland, vermieden werden kann, während Südeuropa in eine Depression abtaucht. Das ist eine widersinnige Vorstellung. Die Eliten, besonders die deutsche Regie-rungspolitik, scheint kein wirkliches Gefühl zu haben für diese wechselseitigen Abhängigkeiten. Daher bin ich sehr skeptisch für die weitere Entwicklung, zumindest in den nächsten 18 Monaten. Irgendwann wird das Lernen schon beginnen, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Wirtschaftswissenschafter, welche die Navigations-karte erstellen, grundlegende Zweifel zulassen und das Herdendenken hintan stellen. Nach 30 Jahren Marktgläubigkeit ist es schwierig sich einzugestehen, dass sich ein Fehldenken eingeschlichen hat. Die meisten US-Ökonomen – ausgestattet mit angelsächsischen Pragmatismus – sind ziemlich fassungslos über den Dogmatismus der europäischen Sparpolitik. Wer aus der Geschichte nicht lernt, muss sie leider in neuer Form wiederholen.“ Der „New Deal für Europa“ sollte auch die Verbraucher ansprechen. Ein Konsumverhalten hin zu mehr Qualität, zu gehaltvollerer Bildung, mag auch deren Interessensvertreter, die Politik, besser steuern können. Ist hier Potenzial vorhanden? Insbesondere wenn die Wähler, die Bürger, ein vernünftiges Verhalten ihren Repräsentanten vorsetzen würden. Weshalb passiert zu wenig bei Bildung und Forschung? Stephan Schulmeister: „Alle zukunftsorientierten Investitionen erfordern ein Mehr an staatlichem Handeln. Gleichzeitig macht die Krise das unmöglich bzw schwierig. Wenn als Folge der Krise Budget- und Staatsdefizite steigen, kann die Politik nicht jene Initiati-ven setzen, welche in Forschung und Bildung erforderlich sind. All diese Aktivitäten können selbst nach neoliberaler Theorie vom Markt nicht gelöst werden. Jetzt müsste von den Marktgläubigen ein Ruck erfolgen. Die Steuerleistung der Vermögenden müsste erhöht werden, um aus den geschaffenen Mitteln eine Anschubfinanzierung für Unternehmen zu leisten.“
Lexpress: US-Präsident Roosevelt hat mit seinem „New Deal“ eine Antwort auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gegeben. Welche Prinzipien sind erhalten geblieben und können eine Basis für ein neues Verständnis für Politik im Gleichklang mit der Wirtschaft schaffen?
Stephan Schulmeister: „Ein Grundgedanke von Roosevelt, der ein Millionär und Abkömmling der „Finanzaristokratie“ war, besagte, dass in einer Weltwirtschaftskrise Geld dort zu holen ist, wo dadurch die Nachfrage nicht sinkt. Denn ein Millionär wird sich seinen Lebens-wandel auch noch leisten können, wenn er um 5% mehr an Steuern zahlt. Kürzt man hingegen die Unterstützung der Arbeitslosen, ist eine Reduktion der Nachfrage die logische Folge – ein Teufelskreis tritt ein. Der Gedanke von Roosevelt, die Besserverdienenden müssten höhere Beiträge leisten, war nicht ge-prägt vom Verteilungskrieg gegen die Reichen, vielmehr war die Überlegung, wie die Wirtschaftsleistung wieder gesteigert werden kann. Nachfrage muss geschaffen werden, ohne sie andernorts zu schwächen. Diese Gedanken sind in Europa kaum salonfähig. Nun sind selbst christlich orientierte Parteien geschlossen dagegen, dass Vermögende mehr beitragen – obwohl es jedem christlichem Prinzip Hohn spricht. Freilich ist es auch Teil einer Krise, dass die Haltegriffe der Identifikation verloren gehen. Somit wissen christliche Parteien über ihre christlichen Grundsätze nicht mehr Bescheid und auch die sozialdemokratischen Parteieliten haben ihr Gefühl für soziale Ungleichheit weitgehend verloren. “
Lexpress: Die Summe dessen, wo man ansetzt, dürfte entscheiden. Zum einen wurden „Rettungsmaßnahmen“ gesetzt, also Erleichterungen geschaffen. Weiters Konjunkturpakete gestaltet, um die Wirtschaft anzukurbeln. Drittens wurden langfristige Maßnahmen eingeleitet wie zB die Kapitalmarktregulierung sowie die Sozialversicherung eingeführt. Jetzt, 80 Jahre später sind die Reaktionen nicht viel neuer. Was ist neu am „New Deal“?
Stephan Schulmeister: „Neu ist, dass wir das wieder benötigen. Ich verdeutliche dies am Bild einer gesellschaftspolitischen Navigationskarte, an der sich die Elite seit 30 Jahren orientiert, und die nicht reparabel ist. Das Problem ist genau diese Orientierung, nämlich sagen zu müssen, dass man so lange falsch gelegen ist und in die falsche Richtung gesteuert hat. Die Geschichte beweist aber sehr wohl, dass Kollektivirrtümer möglich sind. Immer wieder hat man nach falschen Phasen navigiert. Der neue New Deal ist nichts anderes als der kühne Plan, die Richtung der Entwicklung nachhaltig zu verändern, ohne noch über ein neues Gesamtkonzept zu verfügen. Roose-velt war ehrlich mit den Menschen und hat gesagt, dass er nicht genau weiß, wohin er die Menschen führen könne, allein das Bisherige ist nicht zielführend, etwas Neues müsse her. Roosevelt hat in einer echten Depression, 1933, reale Hoffnung und Zuversicht geschaffen, indem er etwa 800.000 jungen Menschen binnen kürzester Zeit Jobs verschafft hat.“
Lexpress: Das Konzept umfasst also den Arbeitsmarkt und wohl auch die erforderliche Qualifikation. Welche Maßnahmen möchten Sie setzen? Die Finanzierung neuer und qualifizierter Arbeitskräfte wird den österreichischen Betrieben schwer gemacht.
Stephan Schulmeister: „Der Staat muss dort Akzente setzen, wo diese für Unternehmen greifen, also eine Offensive im Bildungswesen starten. Ein konkretes Beispiel: 50 Prozent der Wiener Kinder haben Migrationshintergrund. Das sind die Arbeitskräfte von morgen. Als Unternehmer müsste ich doch darauf drängen, dass hier Qualifikationsoffensiven stattfinden. Die Krise wird einmal vorüber sein, die Unternehmen benötigen dann Menschen mit Know-how. Und das zu bewerkstelligen, ist Aufgabe des Staates. Die Finanzierung muss freilich geändert werden, es macht keinen Sinn, den Faktor Arbeit noch höher zu besteuern, zumal unproduktive Finanzvermögen in Österreich extrem niedrig besteuert sind. Es ist keine Frage der sozialen Fairness, vielmehr der ökonomischen Vernunft, dass höhere Beiträge – sogar zum Vorteil der Vermögenden – geschaffen werden. Ein wesentliches Element einer Krise ist, dass jeder festhält, was er hat und nichts herausrückt. Das ist ein großer Irrtum. Umgemünzt auf Europa schlittert seit etwa 6 Monaten ein Land nach dem anderen in die Rezession. Eine Ursache liegt darin, dass es dem Zeitgeist widerspricht, die Budgetdefizite primär durch höhere Beiträge der besser Gestellten zu reduzieren.“
Lexpress: Hoffnungsträger sind die Unternehmen. Neben Maßnahmen in punkto Bildung, wo muss der Staat weiter ansetzen?
Stephan Schulmeister: „Auf vernünftige Weise Investitionsschübe auslösen. Der Energiesektor bietet breite Möglichkeiten, zB die Preise für Energie in ihrem Entwicklungs-pfad zu stabilisieren. Ein Gedanken-experiment: Die Energiekosten würden berechenbar über die nächsten 10 Jahre überdurchschnittlich steigen, etwa pro Jahr um 10 Pro-zent stärker als das allgemeine Preisniveau. Dann wüsste zB die Autoindustrie, dass im Jahr 2020 ein Liter Diesel 4 Euro kostet. Dies würde enorme Investitionsschübe auslösen.“
Lexpress: Womit wir wieder im Handel mit CDS sind. Nun sind die Probleme klar gelegt, die Rezepte liegen in der Schublade …
Stephan Schulmeister: „Genau. Die Instabilität zB des Ölpreises verhindert systematisch Investitionen in neue, umweltschonende Formen der Mobilität. Die Eliten, die sozial- und christdemokratischen Spitzenpolitiker verfügen über kein neues Gesamtkonzept für die Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik. Sie wissen es tatsächlich nicht und nationale WahlInteressen stehen im Vordergrund. Deshalb erfolgt meist nur dann eine Wende, wenn man sich davon die Zustimmung des Wahlvolks erwartet. So hat Angela Merkel erst nach der Katastrophe von Fukushima der Atomenergie den Rücken gekehrt. Bei Fragen der der Budgetpolitik und der Eindämmung der Staatsverschuldung hält sie sich – ganz nach deutscher Tradition – an den populistischen, aber falschen Grundsatz: Der Schuldner ist schuld. Und das ist ein Rückfall in die Denkweise der 1920er Jahre. Tatsächlich erleidet der Staat ein Defizit, weil das System nicht richtig funktioniert.“
Lexpress: Die Qualifikation am Arbeitsmarkt hat ihr Grundübel somit in der Politik. Sehen Sie ein Personalproblem an aller erster Stelle?
Stephan Schulmeister: „Die gravierendsten Fehler machen oft die intelligentesten Menschen. Verbild-licht erhalten Sie auf Auftrag bei einem Tischler einen Tisch mit vier Beinen um darauf etwas abzustellen. Ein hochintelligenter Wirtschaftswissenschafter bastelt ihnen einen Tisch mit sieben Beinen, deren Länge unterschiedlich ist und deren Ausrichtung in verschiedene Richtungen zeigt und präsentiert dies als eine höchst komplexe Lö-sung.“
Lexpress: Woran scheitert es in der entscheidungsbefugten Wissenschaft bzw wo sehen Sie die Basisfehler im Denken der Wirtschaftswissenschafter?
Stephan Schulmeister: „Es fehlt am problemorientierten und anteilnehmenden Denken. Ein Unternehmer hingegen hat Probleme zu lösen mit Menschen, welche er kennt. Ein Wirtschaftswissenschafter kann sich seine Welt ausdenken und mathematische ‚Vielleicht-Modelle‘ generieren – im schönen Fall mit einem Nobelpreis belohnt. Schlussendlich handelt es sich bei den meisten Gleichgewichtsmodellen der Wirtschaftstheorie um die Konstruktion von Luftschlössern, frei nach Schopenhauer: ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘. Allein, die konkrete Welt ist nicht so. Wirklich bedeutende Ökonomen wie etwa Adam Smith (Anm. der Red: 1723-1790, gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie), betreiben auch Feldforschung, gehen etwa in die Fabrik und sehen sich an wie die Arbeitsaufteilung funktioniert. Entscheidend ist das handwerkliche Denken. Und: Die Menschen dürfen einem nicht egal sein. Die herrschende Wirtschaftstheorie sagt nach wie vor: Arbeitslosigkeit muss bekämpft werden, in dem die Reallöhne gesenkt werden. Denn wenn Arbeit billiger wird, wird sie mehr gekauft. Das ist Unsinn.“
Lexpress: Ihr Ansatz und conclusio?
Stephan Schulmeister: „Es liegt nicht an der fehlenden Intelligenz. Die ökonomische Weltanschauung hat sich geändert, die keynesianische Navigationskarte der 1950er und 1960er Jahre mit ihrem Schwergewicht auf dem Erhalt der Vollbeschäftigung wurde ersetzt durch das marktreligiöse Weltbild des Neoliberalismus.“
Lexpress: Wir besprechen hier 3 Sektionen: das Wirtschafts-, Finanz- und das Bildungs-wesen. Ist Europa das Vorzeigeprojekt oder benötigen wir Nachhilfe?
Stephan Schulmeister: „Der ‚New Deal‘ ist nur gesamteuropäisch umsetzbar – mit der Leitlinie: Unternehmertum mehr fördern als Finanzakrobatik. Und das setzt voraus, dass die wichtigsten Preise stabilisiert werden: Wechselkurse und Energiepreise stabilisieren, das Zinsniveau senken, die Kreditklemme für Unternehmen überwinden. Das kostet kein Geld und sorgt für Investitionen. Es kostet lediglich den Mut, das marktreligiöse Weltbild zu verwerfen und schwere Fehler zuzugeben. Die wirtschaftliche Spielanordnung muss geändert werden, statt finanzkapitalistischer Rahmenbedingungen brauchen wir wieder ein realkapitalistisches System. China ist zB ein realkapitalistisches Land. Die Parteiführung begrüßt Investitionen und Kapitalzuführung, aber bitte in der Realwirtschaft. Also Joint Ventures, Technologietransfers – aber feste Wechselkurse und feste Zinssätze. Die finanziellen Rahmenbedingungen für Unternehmen durch Regulierung der Finanzmärkte zu verbessern, kosten nichts, außer ein gründliches Nach-Denken. Als Teil realkapitalistischer Rahmenbedigungen braucht Europa auch einen Währungsfonds als Finanzierungsagentur der Euro-Staaten zwecks Stabilisierung des Zinsni-veus für Staatsanleihen unter dem Niveau der zu erwartenden Wachstumsrate. “
Lexpress: Welche Maßnahmen für klassische Unternehmen möchten Sie empfehlen?
Stephan Schulmeister: „Was benötigt ein KMU? Nehmen wir das Beispiel thermischer Gebäudesanierung, 90 Prozent aller Gebäude sind nicht energieeffizient. Hier muss die Politik eingreifen, um den KMU die Realisierung dieses Investitionspotenzials zu ermöglichen. Das Wichtigste aber ist: Die gesamte Spielordnung muss so geändert werden, dass sich unternehmerischer Einsatz mehr lohnt als Finanzakrobatik.“
Dieses Interview mit Dr. Stephan Schulmeister gibt seine persönliche Meinung wider.
(mp), Michael Pfeiffer, Lexpress (79), Wien, August 2012