Der OGH stellt fest, dass § 176 Abs 1 VersVG als unionsrechtswidrig zu qualifizieren ist und der Versicherungsvertrag bereicherungsrechtlich rückabzuwickeln ist. (Symbolbild: pixabay.com)

Im Jahr 2013 ließ der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit seiner Entscheidung aufhorchen, dass das Rücktrittsrecht bei Lebensversicherungen unbefristet ausgeübt werden kann, wenn keine Belehrung über das gesetzliche Rücktrittsrecht durch den Versicherer erfolgt ist (EuGH Endress/Allianz, C‑209/12). Der EuGH begründete dies im Wesentlichen damit, dass ein Verbraucher das Widerrufsrecht nicht ausüben kann, wenn dieses ihm nicht bekannt ist. Gründe der Rechtssicherheit können keine Beschränkung des Zeitraums, in dem das EU-rechtlich gewährleistete Widerrufsrecht ausgeübt werden kann, rechtfertigen, da dies eine Einschränkung der Rechte implizieren würde, die dem Verbraucher ausdrücklich zustehen.

Viele Versicherungsnehmer nahmen daraufhin mehrere Jahre nach Abschluss ihrer Lebensversicherung von ihrem Rücktrittsrecht Gebrauch und forderten die Rückabwicklung ihrer Versicherungsverträge mittels Rückzahlung der Versicherungsprämien und der Versicherungssteuer samt Zinsen. Der österreichische Gesetzgeber beschloss in weiterer Folge eine Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes (§ 176 VersVG), wonach bei einem Rücktritt – unter anderem – aufgrund fehlender oder fehlerhafter Belehrungen über das Rücktrittsrecht innerhalb des ersten Jahres die für das erste Jahr gezahlten Prämien und im zweiten bis zum Ablauf des fünften Jahres nach Vertragsabschluss der Rückkaufswert erstattet wird. Für Rücktritte ab dem fünften Jahr nach Vertragsabschluss hat § 176 VersVG ebenso wie für die Kündigung oder Anfechtung des Versicherungsvertrags bereits vor der Gesetzesänderung geregelt, dass der Rückkaufswert erstattet wird. Der Rückkaufswert gibt den Wert eines Versicherungsvertrages aus Sicht des Versicherers zu dem Zeitpunkt einer vorzeitigen Kündigung an und beinhaltet damit einen – insbesondere in den ersten Jahren der Vertragslaufzeit erheblichen – Abschlag zu den bezahlten Prämien.

Der Oberste Gerichtshof (OGH) hatte sich in einer aktuellen Entscheidung mit einem Fall zu befassen, in dem eine Versicherungsnehmerin im Jahr 2020 von ihrer im Jahr 2008 abgeschlossenen Lebensversicherung zurückgetreten ist, da sie weder eine Kopie des Versicherungsvertrags oder des Beratungsprotokolls, noch die verbindliche Zusatzerklärung, in der sich die Rücktrittsbelehrung befindet, erhalten hat und nunmehr die bezahlten Prämien samt Zinsen und Versicherungssteuer zurückverlangte (OGH 16.2.2022, 7 Ob 185/21p):

Der OGH bezog sich dabei auf die Rechtsprechung des EuGH (Rust-Hackner et al/Uniqa et al, C-355/18), wonach § 176 VersVG die Fälle des Rücktritts, der Kündigung und der Anfechtung gleich behandelt (Rückerstattung des Rückkaufswerts) und diese Gleichbehandlung dem unionsrechtlich vorgesehenen Rücktrittsrecht jegliche praktische Wirksamkeit nimmt. Dementsprechend stellte der OGH fest, dass § 176 Abs 1 VersVG als unionsrechtswidrig zu qualifizieren ist und der Versicherungsvertrag bereicherungsrechtlich rückabzuwickeln ist. Der Versicherer hat die geleisteten Netto-Versicherungsprämien (abzüglich Versicherungssteuer und allfälliger Risikoprämie) und die Versicherungssteuer zu erstatten. Zusätzlich hat der Versicherer Zinsen auf die zu erstattenden Netto-Versicherungsprämien in Höhe von 4 % p.a. für letzten drei Jahre zu zahlen.

15.3.2022 / Autor: Florian Dauser / Fellner Wratzfeld & Partner Rechtsanwälte GmbH / www.fwp.at