Siemens digitalisiert in Wien Bioprozesse und pusht damit die Wettbewerbsfähigkeit ganzer Industriezweige.

Wien. Der Wettbewerbsdruck in der chemischen Industrie, der Lebensmittelerzeugung und in der Pharmabranche steigt stark an. Daher suchen diese Industriezweige nach effizienteren, günstigeren und qualitativ hochwertigeren Methoden, um ihre Produkte zu erzeugen. Gemeinsam ist diesen Branchen, dass sie ihre Produkte auf Basis von Bioprozessen erzeugen – der Grundstoff sind oft lebende Bakterien. Um Kunden aus diesen Branchen dabei zu unterstützen, qualitativ hochwertigere und effizientere Prozesse aufzusetzen, hat Siemens in Wien das europaweit einzigartige „Living Lab für die Digitalisierung von Bioprozessen“ eröffnet. Im Living Lab werden Forschung und Anwendung in realer Umgebung kombiniert, individuelle Bioprozesse für Kundenbedürfnisse können modelliert, simuliert und optimiert werden. Die Basis dafür sind Daten und ihre intelligente Analyse: Vereinfacht gesagt wird der physische, rein biologische Gärungsprozess in einem Digitalen Zwilling aus Daten exakt abgebildet. Dadurch wird er steuerbar, wiederholbar und dokumentierbar – was zB die Basis für die Zulassung von Medikamenten ist.

Wolfgang Hesoun, CEO / Bernhard Kienlein, Leitung der Division Process Industries and Drives / Harald Loos, Leitung der zentralen Forschungseinheit Corporate Technology, alle Siemens AG Österreich (v.l.) ©: Siemens)

Im Living Lab für die Digitalisierung von Bioprozessen werden neue Technologien und visionäre Ideen von Forschern realitätsnah getestet und weiterentwickelt. Siemens hat in Österreich innerhalb des Konzerns internationale Kompetenzen für die Pharmabranche, die chemische Industrie und die Lebensmittelerzeugung gebündelt. Neben dieser Branchen- und Produktexpertise hat Siemens Österreich in den vergangenen Jahren auch hochqualifizierte Forschungsexpertise für Bioprozesse aufgebaut. Insgesamt beschäftigt Siemens Österreich rund 1.000 Forscher und Entwickler – alleine 60 Experten für Bioprozesse in der Pharmabranche.

Herausforderungen der Prozessindustrie
Die Entwicklung neuer Produkte in der prozesstechnischen Industrie ist sehr aufwändig und sowohl kosten- als auch zeitintensiv. Egal ob es sich um Medikamente, Lebensmittel oder chemische Produkte handelt: Gesetzliche Vorschriften müssen eingehalten und hohe Qualitätsanforderungen erfüllt werden. Dass diese Kriterien bisher erst nach der Produktion in standardisierten Verfahren überprüft wurden, hatte im Fehlerfall zur Folge, dass die gesamte betroffene Charge nicht freigegeben wurde. Zudem war es oftmals schwierig, die Fehlerquelle zu eruieren – was wiederholte Verluste verursachen konnte.

Die Lösung dieses Problems bietet die Digitalisierung prozesstechnischer Anlagen über ihren gesamten Zyklus: Vom Engineering bis zum Betrieb und der laufenden Optimierung. Dazu ist es nötig, mittels intelligenter Mess- und Automatisierungstechnik den Prozess zu überwachen, aus den gewonnenen Daten die richtigen Schlüsse zu ziehen und in weiterer Folge aktiv in den laufenden Prozess einzugreifen.

Erfahrungen aus der Praxis haben gezeigt, dass für eine nachhaltige Optimierung des Prozesses sowohl der Primärprozess (z.B. Erstellen des Produkts) als auch die Sekundärprozesse (z.B. Verpacken) betrachtet werden müssen. Genau hier setzt Siemens mit dem Living Lab Vienna an: Prozesse sollen mathematisch modelliert, simuliert, analysiert und auf Basis der so generierten Daten optimiert werden. Im Fokus stehen sämtliche Branchen, die in ihrer Produktion nicht einzelne Teile sondern ganze Chargen erstellen, also insbesondere die pharmazeutische Industrie, die Nahrungs- und Genussmittelindustrie und auch die chemische Industrie.

Die Entstehung des Living Lab Vienna
Der Bereich Corporate Technology der Siemens AG Österreich – konkret die Forschungsgruppe für Prozessanalytik und Sensorik – arbeitet gemeinsam mit der Siemens Division Process Industries and Drives CEE bereits seit einigen Jahren eng zusammen. Ein seit längerem gemeinsam betriebenes Labor, das nun ins Living Lab übergeführt wird, dient dazu, Produkt- und Forschungsaktivitäten in der Realität zu testen. Ausgestattet ist es bereits seit Beginn der Kooperation mit einem Bioreaktor, in dem als repräsentative Musterorganismen Hefen, Laktobazillen oÄ fermentiert werden.

Schritt für Schritt wurde dieser Fermentationsprozess mit umfassender Messtechnik ausgerüstet und in das Prozessleitsystem SIMATIC PCS 7 integriert, um so das große Potenzial für die Industrie ausschöpfen zu können. So entstand eine Modellanlage für typische industrielle Prozesse, die als Chargenprozesse ablaufen. Während der Fermentation erfassen Forscher mit Hilfe von Sensoren und Analysegeräten die Prozessparameter, die die Qualität des Bioprozesses maßgeblich beeinflussen – etwa den pH-Wert, den Sauerstoff- und Glukosegehalt sowie die Temperatur. Darüber hinaus werden je nach Aufgabenstellung zwischen 100 und 2.000 Messwerte aus den Spektralanalysegeräten erfasst und laufend analysiert. Auf dieser Datenbasis entwickeln Forscher verschiedene Modelle, die die Veränderung der Parameter bei unterschiedlichen Prozessbedingungen abbilden und vorhersagen. Diese Vorhersagetools bilden die Grundlage dafür, Herstellungsprozesse dahingehend zu steuern, die erforderliche Produktqualität jederzeit einzuhalten. Bisher nachgeschaltete offline Qualitätskontrollen verlagern sich so in den online Herstellungsprozess.

Die Forschungsschwerpunkte im Living Lab Vienna
Das Living Lab Vienna ermöglicht die reale Demonstration von biotechnologischen Produktionsprozessen. Wesentliche Aktivitäten sind die praxisbezogene Umsetzung von Forschungsthemen in Form von Projekten bzw. Case-Studies, an welchen Kunden von Siemens ebenso wie Mitarbeiter, z.B. in Form von Schulungen, partizipieren können. Von den Ergebnissen soll eine möglichst breite Nutzerschicht profitieren. Gleichzeitig tritt aber die reale Prozesstechnik nicht in den Hintergrund: So können anhand der laufenden Prozesse das Siemens-Produktportfolio interessierten Kunden präsentiert und auch der Mehrwert live gezeigt werden.

Drei Themenbereiche stehen im Living Lab im Zentrum:

• Erstens: die Digitalisierung in der Prozessindustrie im Bereich Anlagen-Engineering. Wie plant man eine Anlage und wie nutzt man Produkte der Digitalisierungsindustrie, um den Engineering-Prozess von der Planung bis hin zur Inbetriebnahme digital zu unterstützen, z.B. mittels Digital Twin?

• Zweitens: Wie kann man eine Anlage im laufenden Betrieb optimieren und die Digitalisierung für weitere Verbesserungen nützen? Und wie kann der Workflow elektronisch geführt und gesteuert werden?

• Drittens forscht Siemens an Trends, Innovationen und Zukunftsthemen aus den unterschiedlichen Bereichen der Prozessindustrie. Dazu gehört zB der Bereich cloudbased Operations. In diesem Zusammenhang erforschen die Mitarbeiter des Living Labs uÄ welche Möglichkeiten die Siemens-Plattform MindSphere für die Prozessindustrie bietet: Etwa die einfache Integration von Sensoren (IoT-Devices) und der Upload der Daten in die Cloud. So können die im Prozess generierten Daten in der Cloud gespeichert und mit Hilfe der dort zur Verfügung stehenden Werkzeuge auch zur Optimierung herangezogen werden.

Zusammengefasst widmet man sich im Living Lab Vienna folgenden drei Themen: Integriertes Engineering, integrierter Betrieb, Innovationen.

Siemens Technik im Living Lab Vienna
Siemens hat im Living Lab zahlreiche unterschiedliche Produkte im Einsatz. Im Mittelpunkt steht das Prozessleitsystem SIMATIC PCS 7 zur Automatisierung. Dieses steuert die Pumpen, regelt Temperatur und pH-Wert und sammelt Messdaten. Der Einsatz der Software-Lösung COMOS zieht sich beginnend beim Engineering über die Simulation bis hin zum Themenbereich Maintenance & Repair. SIMATIC SIPAT führt die gesammelten Daten zusammen, ist verantwortlich für die Prozessanalytik und Rückkoppelung an das Prozessleitsystem. Die Software SIMIT spielt die Hauptrolle im Bereich Simulation, und schließlich steht für MES-Anwendungen SIMATIC IT eBR zur Verfügung.

Diese Technologien überwachen Qualitätsvorgaben und kritische Parameter in Echtzeit. Tritt eine Abweichung ein, lässt sich der Prozess ohne Betriebsunterbrechung nachjustieren. Die Qualitätskontrolle findet daher nicht erst beim Endprodukt statt, sondern wird schon mehrfach im Prozessverlauf geprüft. Fehler können dadurch frühzeitig erkannt bzw vermieden und die Chargen schneller freigegeben werden. Darüber hinaus zeigt Siemens mit seinem Energiemanagement-System SIMATIC Energy Manager PRO wie der Energieverbrauch in der prozesstechnischen Industrie transparent gemacht werden kann, um in weiterer Folge optimiert werden zu können. Mit den Siemens Produkten des Industrial Communication Networks SCALANCE wird gezeigt, wie Kommunikationsnetzwerke im industriellen Umfeld stabil und sicher aufgebaut werden können.

Trends und Zukunft der Prozessindustrie
Am Beispiel der pharmazeutischen Industrie zeigt sich, in welche Richtung die Digitalisierung die Prozessindustrie künftig führen wird. Das Thema Integrated Engineering bedingt konsistente Datenhaltung und Dokumentation und führt zu Durchgängigkeit von der Konstruktion bis zum Betrieb (Digital Twin). Der verstärkte elektronische Workflow wird das Papier noch weiter aus der Produktion verdrängen. Doch die Veränderungen werden noch tiefgreifender sein: Digitalisierung führt dazu, dass prozesstechnische Anlagen schneller und flexibler errichtet und dadurch auch einfacher auf andere Produkte umgerüstet werden können.

Ein wichtiger Trend in diesem Zusammenhang ist die sogenannte Personalized-Medicine: Individuelle Medikamenten-Kleinstserien werden perfekt an den einzelnen Menschen und seine Bedürfnisse angepasst. Das stellt große Herausforderungen an die Produktion und deren Prozesse. Nicht zuletzt erfordert es eine komplexe Verzahnung von technischer und wirtschaftlicher Unternehmensstruktur bis hin zu Logistik und der Interaktion mit dem einzelnen Individuum. Da eine exakte und gleichzeitig flexible Abstimmung der einzelnen Produktionsprozesse erforderlich ist, rücken Themen wie cloud-based Applications oder Scheduling in den Vordergrund. Für die Produktionsprozesse bedeutet das, sie müssen erheblich flexibler und modularer werden. Der Schlüssel dafür liegt in der Automatisierung und Digitalisierung von Anlagen, die einen schnellen Wechsel von Rezepturen und Prozessfolgen ermöglicht.

Höhere Produktivität kann durch den Trend weg von der chargenorientierten hin zur kontinuierlichen Herstellung von Medikamenten in kompakten Einheiten, mit hohem Automatisierungsgrad erzielt werden. Damit können die Anlagenauslastung gesteigert und zugleich der Footprint der Anlage reduziert werden.

2.2.2018, Autor: Paul Christian Jezek / paul.jezek@lex-press.at