Wie es der heimischen Industrie wirklich geht
„Krisen decken Unzulänglichkeiten schonungslos auf. Das müssen wir als Chance begreifen, um die richtigen Schlüsse zu ziehen und den Standort Österreich für die Zeit nach Corona stark und wettbewerbsfähig aufzustellen. Jetzt ist die Zeit dafür“, sagt Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV). „Die Situation ist ernst. Covid-19 stürzt die Weltwirtschaft in eine Rezession. Für Österreich ist es die schwerste seit 1929 in Friedenszeiten.“ Laut dem IV-Chefökonomen Christian Helmenstein sei für 2020 mit einem Rückgang der Bruttowertschöpfung in Höhe von 7,6 Prozent zu rechnen. Österreich könne sich von den weltweiten Entwicklungen nicht entkoppeln, sehr wohl aber den Schaden minimieren. Seitens der Industrie gebe es dafür einige klare Empfehlungen.
Österreich müsse sein Potenzialwachstum steigern. Ein investitionsgetriebenes Wachstum sei der sicherste und nachhaltigste Weg aus der Krise, ist Neumayer überzeugt. „Daher braucht es Anreize für Unternehmen, die den Weg für Investitionen in Zukunftsbereiche wie Innovation, Technologie, Klima- und Umweltschutz ebnen und gleichzeitig entlasten.“ Dies könnte einen Investitionsfreibetrag auf Anschaffungs- und Herstellungskosten von digitalisierungs- und umweltfördernden Investitionen in der Höhe von 25 Prozent für Digitalisierungsinvestitionen und 50 Prozent für umweltfördernde Investitionen beinhalten. Auch müsse man verstärkt auf die Beschäftigten als Motor des wirtschaftlichen Erfolgs setzen. So hätten Unternehmen temporär die Option, Beschäftigten aufgrund der zusätzlichen Covid-19-Belastung eine Prämie von bis zu 3.000 Euro steuerfrei zu bezahlen. „Daraus könnte man etwas Dauerhaftes machen“, so der IV-Generalsekretär.
Eine weitere Lehre aus der Corona-Krise sei, dass Österreich und Europa im Bereich Forschung, Technologie und Innovation – aber auch in der Produktion – wieder zu den Global Playern aufschließen müssen. „Wir müssen erfolgreiche Produktionsstandorte forschungsintensiver, innovativer Unternehmen am Standort absichern und die weitere Ansiedlung ausländischer Technologieunternehmen und vor allem die (Wieder-)Ansiedlung besonders systemrelevanter Produktionen in Österreich fördern“, betont Neumayer. Zu guter Letzt brauche es zudem ein klares Konzept für den Abbau der Staatsschulden. „Mittels eines konkreten, verbindlichen mehrjährigen Stufenplans müssen wir deren Rückführung in Angriff nehmen. Es braucht dazu einen Mix aus wachstumsfördernden Maßnahmen auf der Einnahmenseite und effizienzsteigernden Maßnahmen auf der Ausgabenseite. Denn gerade in einem Höchststeuerland wie Österreich muss der Fokus auf der Ausgabenseite liegen. Eine wachstumsorientierte und effizienzsteigernde Budgetkonsolidierung ist möglich – wie man auch in den vergangenen Jahren gesehen hat.“
Erste Erholung ab dem dritten Quartal
IV-Chefökonom Christian Helmenstein erläutert die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie im Detail. Durch Covid-19 komme es zu einem simultanen Auftreten sowohl von Angebots- als auch Nachfrageschocks. Ersteres etwa in Form von Betriebsschließungen, zweiteres durch eine negative Einkommensdynamik, sodass der Absatz von Gütern und Dienstleistungen insgesamt zurückgehe. Die Industriellenvereinigung hat Szenarien berechnet: ein Realszenario und ein Positivszenario. Im Realszenario, dem derzeit die höchste Eintrittswahrscheinlichkeit zugemessen wird, verringert sich die Bruttowertschöpfung (BWS) in Österreich COVID-19-bedingt um 30,9 Mrd. Euro im Gesamtjahr 2020. Dies wären vom Umfang her 8,7 Prozent der heimischen Wirtschaftsleistung – doppelt so viel wie nach der Krise 2008/2009. „Eine wirtschaftliche Erholung in Österreich setzt voraussichtlich erst im 3. Quartal 2020 ein. Ein kräftiger Rebound-Effekt ist ab dem vierten Quartal 2020 vor allem im Bereich der Investitionsaktivitäten zu erwarten, während sich die privaten Konsumausgaben nur allmählich während der Jahre 2020 und 2021 erholen werden“, sagt Helmenstein. „Statt einer Wende zum Besseren nach einer schon zwei Jahre andauernden Phase der Abwärtsdynamik hat COVID-19 nunmehr einen regelrechten konjunkturellen Fadenriss ausgelöst.“
Das IV-Konjunkturbarometer, das als Mittelwert aus den Beurteilungen der gegenwärtigen Geschäftslage und der Geschäftslage in sechs Monaten bestimmt wird, präsentiert sich tiefrot. Sein Wert stürzt um 37,8 Punkte von plus 18,0 Punkten auf -19,8 Punkte ab. Insgesamt waren während der letzten 100 Quartale (entsprechend 25 Jahren) vierzehn solcher schärferen konjunkturellen Rücksetzer zu beobachten, aber noch niemals kam es in der Historie des IV-Konjunkturbarometers zu einem derart großen Punktverlust.
Die Covid-19-bedingte Rezession stellt selbst noch die Negativdynamik des Jahres 2008 in den Schatten. Dabei ist es weniger die Einschätzung der aktuellen Geschäftslage, welche den Absturz des IV-Konjunkturbarometers bewirkt. Dessen Lagekomponente geht um „lediglich“ 21 Punkte zurück, vielmehr ist es der beispiellose Einbruch bei der Komponente der Geschäftserwartungen um 55 Punkte. „Bis in das dritte Quartal hinein werden sich weite Teile der Industrie mit enorm schwierigen Marktbedingungen konfrontiert sehen“, konstatiert IV-Chefökonom Helmenstein. Die zuletzt beobachtete Stabilisierung der Gesamtauftragsbestände findet bei einem Verlust von 12 Punkten nunmehr ihr Ende und geht auf 17 Punkte zurück. Die Auslandsaufträge fallen von 21 auf 9 Punkte. Doch sind diese Werte mit doppelter Vorsicht zu interpretieren: Zum einen umfasste der Erhebungszeitraum für das Konjunkturbarometer noch einige Tage aus der Prä-Shutdown-Periode, zum anderen lehrt die Erfahrung aus 2008, dass manche schon verzeichnete Aufträge volumensmäßig gekürzt, zeitlich verschoben, preislich nachverhandelt oder gänzlich gestrichen werden könnten, abgesehen davon, dass zuvor bestellte und bereits produzierte Ware nicht abgenommen wurde. Der Verlust an Auftragsreichweite dürfte daher noch größer ausfallen. Vor diesem Hintergrund erfahren die Produktionserwartungen für die kommenden drei Monate einen massiven Einbruch. In saisonbereinigtem Ausweis verliert der Indikator 56 Zähler auf -49 Punkte.
Hiermit korrespondierend hat sich der negative Beschäftigungstrend in der Industrie (Saldo -37 nach -6) erheblich verschärft. Durch die „Corona-Kurzarbeit“ konnte allerdings ein dramatischer Anstieg der Arbeitslosigkeit vermieden werden, denn einerseits bricht der Beschäftigungsindikator im Vergleich mit den Produktionserwartungen nur gut halb so stark ein. Andererseits führt ein Vergleich mit 2008 zum gleichen Befund: Obwohl das Tempo des Konjunktureinbruches höher ist, sinken die Beschäftigungserwartungen derzeit nicht stärker als seinerzeit. Bemerkenswert ist, dass jedes 25. Industrieunternehmen seinen Personalstand auszuweiten will. Dies unterstreicht das Ausmaß des zuvor bestehenden Fachkräftemangels, der durch die Krise zwar vorübergehend entschärft wird, im Wiederaufschwung jedoch verschärft wachstumshemmend zutage treten wird. Der Anteil der Unternehmen, welcher mit einem absoluten Rückgang der erzielbaren Verkaufspreise rechnet, nimmt weiter zu (Saldo -16 nach -9). Die je nach Wirtschaftszweig, mitunter sogar je nach Produktportfolio zum Teil nach wie vor stabile, zum Teil katastrophale Mengenentwicklung in Verbindung mit einem zunehmenden Preisdruck setzt den Unternehmen bereits derzeit ertragsseitig zu (Saldo -2 nach +10), doch wird das ganze Ausmaß erst verzögert im Zuge der reduzierten Kapazitätsauslastung auf die Unternehmensergebnisse durchschlagen (Saldo -49 nach -2). Nur jedes 25. Unternehmen glaubt, dass sich die Ertragssituation binnen des nächsten halben Jahres aufhellen wird.
Zwar werden sich einnahmen- wie ausgabenseitig fiskalische Belastungen einstellen. Dennoch wird die Krise aus heutiger Sicht kein Ausmaß annehmen, das die Schuldentragfähigkeit Österreichs übersteigt. Weder Steuererhöhungen noch Ausgabenkürzungen erscheinen sinnvoll, um die Belastungen auszugleichen. Beides liefe einer raschen Erholung der Wirtschaft zuwider: Steuererhöhungen würden die Investitionsneigung aushöhlen, Ausgabenkürzungen die unsicherheitsbedingte Konsumzurückhaltung verstärken. Aussichtsreich wäre daher die Rückkehr zu einem ausgeglichenen Budgetpfad, sobald möglich.
Hinter den Kulissen
An der jüngsten Konjunkturumfrage der Industriellenvereinigung beteiligten sich 313 Unternehmen mit rund 212.000 Beschäftigten. Bei der Konjunkturumfrage der IV kommt folgende Methode zur Anwendung: Den Unternehmen werden drei Antwortmöglichkeiten vorgelegt: positiv, neutral und negativ. Errechnet werden die (beschäftigungsgewichteten) Prozentanteile dieser Antwortkategorien, dann wird der konjunktursensible „Saldo“ aus den Prozentanteilen positiver und negativer Antworten unter Vernachlässigung der neutralen gebildet.
23.06.2020 / Autor: Paul Christian Jezek / p.jezek@lex-press.at